Stephanie Morcinek
Hört endlich auf zu sagen, dass wir alles schaffen können!
Aktualisiert: 10. Jan. 2022
Es ist ein Meme, das auf Instagram und auch im realen Leben immer zu lesen oder zu hören ist: Du kannst alles schaffen. Meist folgt darauf noch ein "wenn du dich nur anstrengst" oder ein "wenn du es nur willst". Doch Fems, auch, wenn es sich nach mutmachendem Spruch anhört, der motivieren und uns nach vorne pushen will, diese Worte sind einfach eine verdammte Lüge. Wir belügen uns selbst und streben nach Idealen, doch erreichen werden wir sie oftmals nicht. Ich bin nie dermaßen negativ und ich entschuldige mich direkt bei allen, aber wir müssen einfach mal runter von der rosafarbenen Einhornwolke und rein in die klar-transparente Realität. Natürlich macht es Mut, wenn wir über Menschen lesen, die sich aus dem Nichts etwas aufgebaut haben, die sich von ganz unten nach ganz oben gearbeitet haben und jetzt auf ihr Werk hinabblicken und mit Stolz verkünden: Ich habe es geschafft, also kann das jeder schaffen. Fakt ist aber: Es kann nicht jeder schaffen. Wir müssen einfach etwas ehrlicher mit uns sein und stattdessen vielleicht vielmehr kleine Erfolge loben als immer nur das große Ganze zu sehen.

Ständig dieser Druck aus der Gesellschaft
Der Satz: "Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst" macht Druck. Er ist ein Satz, der uns von klein an beigebracht wurde. Neben weiteren patriarchalen und kapitalistischen Leitsätzen wie "Je mehr Leistung, desto wichtiger bist du" oder dem ständigen Vergleichen und Besser-sein-Wollen, um wirklich zu zählen. Diese kompetitive Umgebung erzeugt schon unter Grundschüler*INNEN einen regelrechten Kampf, immer der/die Beste*r sein zu müssen, ständig an sich arbeiten zu müssen, immer mehr zu geben. Ein gesunder Ehrgeiz ist wichtig und es erfüllt, Erfolge zu feiern, Ziele zu erreichen und sich über seine Leistung zu freuen. Doch es bleibt nicht aus, dass wir uns mit anderen vergleichen, deren Leistung und deren Erfolge anschauen. Ganz langsam kriecht dabei ein ekliger Gefühlswurm unseren Körper entlang, der uns auf Dauer innerlich auffrisst, weil wir vielleicht irgendwann an einen Punkt kommen, an dem es nicht weitergeht. An dem die Karriere, vielleicht sogar das Leben stagniert. Die mentale Gesundheit kann darunter dauerhaft leiden. Und wir sind gefangen im Hamsterrad, das sich immer weiter dreht, ohne wirklich voranzukommen.
Ableismus: Darum müssen wir mehr darüber reden
Ganz besonders deutlich wird es, wenn Menschen mit Behinderung diesem so genannten internalisiertem Ableismus ausgesetzt sind. Damit werden verinnerlichte Glaubenssätze bezeichnet, die auf bestimmte Fähigkeiten abzielen und genau solche Sätze propagieren wie "Du kannst alles schaffen" oder "Wer am meisten gibt und am meisten Erfolg hat, nur der ist wichtig für die Gesellschaft". Das Wort Ableismus wird aus dem engl. Wort "able" (= fähig sein) und dem Suffix -ismus gebildet und ist ein sozialwissenschaftliches Konzept, das Menschen auf eine bestimmte Fähigkeit oder Eigenschaft reduziert, z.B. eine Behinderung.
Im Ableismus dominiert eine normative Vorstellung davon, was Menschen leisten können, ja sogar leisten müssen. Jeder, der von dieser Norm abweicht, wird als behindert bezeichnet und als minderwertig wahrgenommen. Es sind stereotypische Zuweisungen, die Menschen wegen ihrer Behinderung erfahren. Keiner ist wirklich befreit von den Vorstellungen des internalisierten Ableismus, aber es ist wichtig, dass wir ihn erkennen und bekämpfen.
Ableismus bekämpfen – das können wir tun
Jede*r Einzelne von uns kann dazu beitragen, dass sich Menschen mit Behinderung nicht ausgegrenzt fühlen. Wir dürfen nicht immer nur Leistung belohnen, sondern müssen auch Pausen zulassen und kommunizieren, dass sie kein Zeichen von Schwäche sind. Doch selbst behinderte Menschen können ableistisch sein, indem sie z.B. andere Behinderungen als weniger schwerwiegend oder einschneidend betrachten und anderen Menschen damit das Recht absprechen, sich ausgegrenzt zu fühlen. Die eigene Behinderung ist nicht gleichzeitig die Berechtigung dafür selbst behindertenfeindliche Witze zu machen, denn auch das erschafft erneut Grenzen und damit ein Ausgegrenzt-Gefühl.
Die Spirale des Drucks
Die Hassliebe zu den Sozialen Medien wird auch hier wieder mehr als deutlich. Wo sehen wir denn, was die anderen Herausragendes leisten? Wo entsteht denn das schlechte Gewissen, nicht genug zu sein oder nichts erreicht zu haben? Bei jedem Scrollen fliegen sekündlich vermeintliche Erfolgsmomente an uns vorbei. Warum sind wir so oft im Außen und so selten bei uns? Vielleicht wäre ein Real Life Check mal angebracht, in dem wir ganz bewusst aufschreiben, was wir geleistet haben. Und ja klar, es wird immer jemanden geben, der mehr Erfolg, mehr Geld, eine bessere Position oder was auch immer hat. Dieser Mensch hat dann aber auch andere Vorraussetzungen gehabt, hat vielleicht die richtigen Menschen im richtigen Moment getroffen oder hatte einfach Glück. Auch das gehört zum Leben dazu. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Einen Nerv zu treffen.
Ich versuche, mein Mind Set zu ändern – auch wenn es schwer fällt
Ich gebe es ganz offen zu: Ich schreibe diesen Text, um mich selbst ein klein wenig zu therapieren. Auch mich hat das "Alle sind besser als ich"-Virus voll erwischt und kein Medikament hat es bisher geschafft, mich vollständig von dem Glaubenssatz zu heilen, dass ich es doch auch hinbekommen müsste. Vor allem während des letzten Jahres scheinen so viele zu ihrem besten Selbst herangewachsen zu sein. Ich wurde immer leiser und unsichtbarer. Doch stimmt das wirklich? Hab ich nicht auch etwas erreicht und mich weiterentwickelt? Hab ich nicht auch etwas geschaffen? Diese Website zum Beispiel. Oder unseren Instagram-Account mit mittlerweile über 1150 tollen Menschen, die uns folgen. Warum kann ich mir dafür nicht auch mal auf die Schulter klopfen und sagen, dass es gut war, was bei unserer Freund*INNEN-Arbeit herausgekommen ist. Vielleicht erreichen wir damit nicht Millionen, aber hey, jede*r Einzelne*r, die/der sich von unseren Themen angesprochen fühlt, liked, kommentiert oder auch nur zum Nachdenken angeregt wird, ist doch ein kleiner Erfolg. Von daher: Ich kann vielleicht nicht alles schaffen, aber das, was ich schaffen kann, mach ich so gut es geht. Und sage mir einfach viel häufiger: "Du bist genug!". Lebt sich's viel entspannter mit...