Charlotte Andersson
Darum müssen wir über Qualzucht sprechen!
Aktualisiert: 6. Okt. 2020
Hüftschäden, verformte Schädel, Atemnot: Bei vielen Hunderassen sind Leid und Krankheiten programmiert. Auch wenn Qualzucht per Gesetz verboten ist, wird sie weiterhin betrieben. Wie kann das sein? Eine TierärztIN erklärt uns: Was fehlt, ist Aufklärung.

Wenn die Temperaturen die 30-Grad-Marke knacken, ringen sie nach Luft – mehr noch als sonst: Möpse, Cavalier King Charles Spaniel, französische Bulldoggen. Längst gehören die Hunderassen zu den beliebtesten in Deutschland. Dass sie prädestiniert für Erbkrankheiten sind, darüber machen sich Besitzer im Voraus nur wenige Gedanken. Alleine beim Anblick der röchelnden Tiere treibt es manch einem die Tränen in die Augen. Und das, obwohl Qualzucht per Gesetz doch eigentlich verboten ist.
Das Tierschutzgesetz § 11b besagt:
(1) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch biotechnische Maßnahmen zu verändern, soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse oder im Falle der Veränderung Erkenntnisse, die Veränderungen durch biotechnische Maßnahmen betreffen, erwarten lassen, dass als Folge der Zucht oder Veränderung
1.
bei der Nachzucht, den biotechnisch veränderten Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten oder
2.
bei den Nachkommen
a)
mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten,
b)
jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen selbst oder einem Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führt oder
c)
die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt.
(Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/__11b.html)
Wie kann es also sein, dass Züchter*INNEN und Käufer*INNEN ungestraft davonkommen? Fälle von Qualzucht gibt es schließlich zu Genüge.
Das Problem liegt woanders. Denn klar, den Qualzuchtparagraphen gibt es zwar, genaue Kriterien aber nicht. Das erschwert Kontrollen enorm. In den Niederlanden sah die Rechtslage bis vor Kurzem noch genauso aus. Vergangenes Jahr führten sie ein sogenanntes Ampelsystem ein. Verboten, also im roten Bereich, sind demnach Hunde und Katzen mit platten Nasen. Wer dort heute noch Möpse züchtet, macht sich strafbar. Wenn die Nase nur etwas länger ist und zwischen 1/6 und 1/3 des Kopfes einnimmt, gehört die Rasse zu jenen, die künftig verboten werden. Demnach liegen sie im orangefarbenen Bereich. Erst wer grünes Licht bekommt, darf weiterhin züchten (mehr Infos erfährst du bei der FECAVA – Federation of Companion Animal Veterinary Associations).
Warum gibt es keine stärkeren Kontrollen?

Die Frage ist aber auch: Wer kontrolliert Züchter*INNEN bei uns eigentlich? In der Regel sind das die Veterinärämter. Doch auch hier fehlen die genannten Kriterien, anhand derer Amtstierärzt*INNEN feststellen können, was genau unter Qualzucht fällt.
Maßnahmen wie in den Niederlanden sind in Deutschland derzeit nicht geplant. Stattdessen kündigte BundeslandwirtschaftsministerIN Julia Klöckner ein Ausstellungsverbot an. Jedes Jahr gibt es unzählige Wettbewerbe, die jene Hunde küren, die den Rassestandards entsprechen. Eine Utopie und ganz so, als wolle der Mensch seine Allmacht unter Beweis stellen. Um jeden Preis.
Durch ein Ausstellungsverbot, soll, laut Klöckner, der Zuchtanreiz entfallen und verhindert werden, dass die Nachfrage nach diesen Hunden steigt. Doch es scheint fast so, als blende die MinisterIN Plattformen wie Instagram, Facebook oder Twitter, auf denen Trends deutlich zu erkennen sind, aus.
Wer auf der Suche nach einem Züchter ist, der landet meist auf der Seite des Verbandes für das Deutsche Hundewesen, kurz VDH. Die legen im Übrigen auch die Rassestandarts fest. Unter dem Reiter 'Züchtersuche' lässt sich filtern – nach Rasse oder Stadt. Außerdem findet man das sogenannte 'VDH-Gütesiegel'. Hier heißt es:
“Über 240 verschiedene Hunderassen werden in den Zuchtvereinen des VDH betreut und unter strengsten Kontrollen gezüchtet. Der VDH und seine Mitgliedsvereine haben sich im internationalen Vergleich – seit jeher – für ein äußerst strenges Zuchtreglement entschieden. Die entsprechenden Richtlinien legen den höchsten Stellenwert auf die Gesundheit und den Tierschutz".

Denken wir wieder an Möpse oder Bulldoggen – kann hier jemals von Gesundheit gesprochen werden? Das wollten wir auch vom VDH wissen und fragten nach. Leider ohne Erfolg. Nachdem es in einer ersten Mail hieß: "Die Presseabteilung wird sich unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen", bekamen wir auf unsere Fragen nie eine Antwort.
Die des Ulmer Tierarzt Ralph Rückert ist dafür aber umso klarer. In einem seiner Blog-Einträge schreibt er 2017, dass ihm regelmäßig ein kalter Schauer den Rücken hinunterlaufe, wenn französischen Bulldoggen “und andere Plattnasen” nach einer OP mit Tubus erwachen.
Es sei der Moment, so schreibt er, an dem man merke, "dass die Hunde bei vollem Bewusstsein das Gefühl genießen, zum ersten Mal in ihrem Leben mühelos (eben durch den Tubus) atmen zu können”. Ziehe man den Tubus dann endlich, sehe man “einen Schleier der Resignation und der Enttäuschung über die zuvor fasziniert glänzenden Augen fallen.
"Es gibt keinen Moment, an dem die lebenslange und immer noch von viel zu vielen Besitzern ignorierte oder gar bewusst geleugnete Qual vieler Plattnasen klarer zum Ausdruck kommt. Leider Gottes ist das ein Moment, den nur wir (Tierärzte) erleben”. (Ralph Rückert)
Professor Dr. Gerhard Oechtering, von der Universität Leipzig, erklärte in einem Interview sogar:
"Es ist die große Masse an schwerkranken Tieren, die zwingend nach einem Zuchtverbot schreit." (Prof. Dr. Gerhard Oechtering)
Seit 15 Jahren werden in der HNO-Abteilung der Klinik für Kleintiere Hunde und Katzen mit Hals-Nasen-Ohren Erkrankungen von Spezialisten behandelt. Oechtering selbst, operiert die Plattnasen täglich. Auf die Frage, ob man sich einen solchen Hund heute noch kaufen könne, erklärt er in einem Interview: "Ganz, ganz klar nein. Weder eine französische noch eine englische Bulldogge oder einen Mops!".
Wie konnte es eigentlich so weit kommen?

Der Mops erfüllt das Kindchenschema, das macht ihn so beliebt. Doch die großen Augen und der kompakte, üppige Körper wurden über die Jahre aufs Extremste herangezüchtet. Das Problem ist, dass die Proportionen nicht stimmen. Der Rassestandard für den Mops etwa lautet: „Ausgesprochen quadratisch, gedrungen und viel Masse in kleinem Raum“. Ähnlich bei der französischen Bulldogge: „Dieser Hund ist in jeder Hinsicht ein kurzer und gedrungener Hund“.
Es bleibt die Frage, woher wir Menschen uns eigentlich die Freiheit nehmen, darüber zu entscheiden, dass ein Leben mit Krankheiten, Leid und frühem Tod okay ist? Hunde sind heute mehr als der beste Freund des Menschen. Oft geht es darum, das eigene Repräsentationsbedürfnis zu befriedigen. Der Hund als Ego-Pusher. Möglichst schick soll er sein, niedlich und vor allem vorzeigbar. Längst inszenieren wir nicht mehr nur uns selbst auf Instagram, sondern auch unsere Vierbeiner.
Etliche Dog-Accounts existieren auf der Plattform. Mit 4,7 Millionen Followern ist die Seite @dogsofinstagram eine der beliebtesten. Was auffällt: Die Hunde werden vorgeführt, ja, lächerlich gemacht. Je clownesker, desto besser. 235 000 Likes bekam ein Video, in dem eine englische Bulldogge in Schwimmweste durch einen Pool hechelt.
Mindestens so beliebt ist das Motiv, auf dem Tiere im Sitzen einschlafen. Was mit „super-cute“ kommentiert wird, ist oftmals die einzige Position, in der Plattnasen atmen können. Der Grund dafür ist das sogenannte Brachycephalensyndrom – also eine Einengung der Atemwege, zu der es häufig durch die verkürzte Nase und den verengten Naseneingang kommt. Ganz typisch dafür ist das schnarchende Atemgeräusch, das keinesfalls als normal, sondern als Symptom einer gestörten Atemfunktion angesehen werden sollte. Wer wissen möchte, wie sich das anfühlt, hält sich die Nasenlöcher zu drei vierteln zu – dauerhaft.
Ebenfalls beliebt ist ein Motiv, auf dem die Hunde sich flach auf den Boden legen und die Beine von sich strecken. Von Tierärzten wird die Position Notkühlung genannt. Denn zur Regulation seines Wärmehaushalts braucht der Hund, anders als der Mensch, eine funktionierende Nase. Da die nicht vorhanden ist, kann es schnell zum Hitzschlag kommen. Folglich nutzt der Hund den Fußboden um den Bauch zu kühlen.
Wir fragen uns: Werden solche Tatsachen bewusst verdrängt oder wissen viele einfach nur nicht Bescheid?

Wichtig, so erklärt uns die Ludwigsburger TierärztIN Frau Dr. Erika Christiansen im Interview, sei vor allem eines: Aufklärung!
femininINNEN: Welche Krankheiten treten besonders häufig auf?
Dr. Erika Christiansen: "Zunächst einmal muss man immer bedenken, dass viele Krankheiten auch Mischlinge treffen können. Aber typisch für Rassehunde ist etwa die HD-Erkrankung, also die Hüftgelenksdysplasie oder Ellbogenglenksdysplasie. Was viele nicht wissen, der Cavalier King Charles hat oft noch mehr Probleme mit der Atmung als der Mops. Damit einher gehen Herzerkrankungen. Häufig sterben diese Hunde sehr jung. Was bei allen Rassen zunehmend ein Problem ist, sind Allergien. Nicht nur gegen Futtermittel, sondern auch Umweltallergien."
Wie gehen Sie damit um?
"Ich bin immer froh, wenn die Leute zu mir in die Praxis kommen und sich eine Beratung wünschen. So kann man diskutieren, welche Risiken man eingeht. Leider tun das aber nur sehr wenige Leute. Trotzdem sollte der Rassehund nicht partout verdammt werden."
Wie müssen wir uns als Menschen das Röcheln etwa bei Bulldoggen oder Möpsen vorstellen? Haben sie tatsächlich dauerhaft Atemnot?
"Ich denke, es ist einfach eine unglaubliche Stresssituation für die Tiere. Gerade französische Bulldoggen können sehr sportlich sein, richtige Powerdogs. Aber wenn man sich die Gesichtsausdrücke anschaut, sieht man oft etwas anderes. Es ist nicht immer nur die Atmung, sondern häufig gibt es auch Probleme mit den Gelenken. Die krummen Beine finden viele sogar niedlich. Dennoch ist das Röcheln sicher auch eine Form von Angst."
Wovor?
"Davor, zu ersticken."
Furchtbar. Mittlerweile gibt es ja sogenannte Retro-Möpse, die als "gesunde" Tiere verkauft werden
"Ja, es gibt diverse Rückzüchtungen. Angeblich haben sie auch eine längere Nase. Diese Hunde haben trotzdem keine normale Schnauze, kein normales Gebiss, zumindest wenn man das beispielsweise mit einem Schäferhund vergleicht."
Welche Risiken entstehen durch die schlechte Luftzufuhr?
"Nun, die Tiere bekommen sehr schnell einen Hitzschlag. Ein Hitzestau ist noch häufiger. Aber die Leute, die so einen Hund haben, wissen das und sind entsprechend nur früh morgens oder spät abends unterwegs. Sie gehen das Risiko bewusst ein."
Möpse und französische Bulldoggen sind absolute Modehunde – warum?
"Ich denke, die Rasse ist so beliebt, weil sie eben so niedlich aussieht, sie erfüllt ja total das Kindchenschema, denkt doch nur an die großen Augen und den Blick. Außerdem geben sie diese menschlichen Geräusche von sich. Sie furzen, grunzen und schmatzen. Hinzu kommt, dass vor allem französische Bulldoggen fast immer gutmütige Tiere sind. Aufgeschlossen, kinderlieb, aber auch oft Underdogs."
Was meinen Sie damit?
"Andere Hunde interpretieren das Röcheln oft als Knurren. Daher werden Plattnasen häufiger gebissen."
Kann man den Tieren denn irgendwie helfen?
"Mit Professor Oechtering gibt es in Leipzig einen Spezialisten. Für mich geht es bei diesem Thema eher um Aufklärung. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass sich Leute zu wenige Gedanken machen, was sie sich da kaufen. Etwas kommt in Mode und zack, möchte man es haben, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein."
Wer ist für die Rassestandards eigentlich zuständig?
"Die legt der VDH fest. Der Verband wird sicher dafür plädieren, dass wir weiterhin Züchter haben, um gewisse Rassenmerkmale zu erhalten. Ich denke aber, dass es nur wenige kritische Züchter gibt."
Warum ist das eigentlich nicht verboten?
"Nun, Qualzucht ist verboten, Punkt. Aber es wird eben nicht so umgesetzt. Und wo fängt man an? Was heute etwa verboten ist, ist das kupieren. Früher hat man Welpen beispielsweise Teile der Ohren und des Schwanzes abgeschnitten. Das war etwa der alte Rassestandard eines Boxers. Heute sieht man das nur noch selten, früher war das eine Standard-Op bei den Tierärzt*INNEN. Bis die gesagt haben, dass sie das nicht mehr machen würden. Das konnte man ganz gut durchsetzen, schließlich galt es als Amputation, in etwa so, als würde man jemandem den Finger abschneiden. Ich denke, es muss auch ein Umdenken bei den Tierärzt*INNEN passieren, ebenso bei den Züchter*INNEN und Besitzer*INNEN – und die müssen aktiv nachfragen. Leider ist das oft eine emotionale Sache. Man geht zum Züchter, sieht den Hund und blendet alles andere aus. Aufklärung ist das A und O. Je mehr Leute wissen, wie schlimm Qualzucht ist, desto mehr passiert. Das Schlimme ist nur, wenn der Mensch etwas will, dann findet er ein Argument, um es durchzusetzen."
Ein langer Weg also…
"Ich denke, wenn die Menschen sagen: So, wir wollen diese Hunde jetzt nicht mehr kaufen, dann wird sich etwas ändern."