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  • AutorenbildKatja Brömer

Wann gibt es endlich Frieden? – Der vergessene Krieg im Jemen


Während die großen Medien zur Zeit kaum andere Themen als die US-Wahl und die Corona-Pandemie kennen, herrscht 5200 Kilometer entfernt von uns immer noch ein Krieg, bei dem es sich laut Vereinter Nationen um die "größte humanitäre Krise der Welt" handelt: der Bürgerkrieg im Jemen. Seit 2015 tobt dort ein erbitterter Kampf, dem schon 200.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. 80 Prozent der Bevölkerung sind aktuell auf humanitäre Hilfe angewiesen – etwa 24 Millionen Menschen. Wir wollen an diese furchtbare menschliche Katastrophe erinnern, dir erklären, warum dort überhaupt Krieg herrscht und haben mit Rettungsmediziner und Buchautor Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen gesprochen, der vor Ort um das Leben der Jemeniten kämpft.

Die Taube ist ein Symbol des Friedens // Photo: Unsplash/Sunyu Jhq

Der Krieg im Jemen: Der Konflikt


Der Krieg im Jemen ist eine der schwierigsten und am längsten andauernden Konflikte, die es weltweit zu verzeichnen gibt. Seit über fünf Jahren herrscht in dem vorderasiatischen Staat, der sich im Süden der Arabischen Halbinsel befindet, ein Bürgerkrieg. 20,1 Millionen Menschen der ca. 29 Millionen Einwohner haben keinen sicheren Zugang zu Nahrung, 14,3 Mio. Menschen sind akut von Hunger bedroht. Die Bundeszentrale für politische Bildung befürchtet durch die Covid-19-Pandemie und das ohnehin am Boden liegende Gesundheitssystem mit jahrelanger Mangelernährung sowie der längst nicht überwundenen Cholera-Epidemie eine weitere humanitäre Katastrophe.


Doch wie ist es überhaupt zu dieser Katastrophe und zum Krieg gekommen? Schau dir dazu das Video von Explainity an. Es ist sehr einfach erklärt und stellt die Verstrickungen des Krieges deutlich und leicht verständlich dar.


Jemen: Die Bevölkerung leidet


Durch den Krieg verliert das Geld zusehends an Wert. Die Bevölkerung bekommt immer weniger Nahrung, muss dafür immer mehr Geld zahlen. Falls es überhaupt Lebensmittel zu kaufen gibt... Durch die Bombardements ist die Versorgung von Lebensmitteln über Tage oder sogar Wochen unterbrochen, das Trinkwasser ist zudem knapp oder durch Cholera-Bakterien verseucht. Die unterernährten Körper müssen also nicht nur gegen Hunger, sondern auch gegen ein Bakterium ankämpfen, das ihnen jegliche Kraft raubt. Und jetzt auch noch gegen das Corona-Virus, das sich auch an den Grenzen zum Jemen nicht abhalten lies.



Die USA versorgt Saudi Arabien seit Beginn des Krieges mit Waffen und beteiligt sich somit maßgeblich am Leid im Land. Deutschland versucht mit 220 Mio. Euro pro Jahr den Jemeniten vor Ort zu helfen, gleichzeitig laufen jedoch Rüstungsgeschäfte mit Ländern die sich an den Luftangriffen beteiligen, z.B. Ägypten oder die Vereinten Arabischen Emirate. Somit sind auch wir – wenn auch nur indirekt – am Leid der Jemeniten maßgeblich beteiligt.


Wir dürfen den Krieg im Jemen nicht vergessen


Es ist fast grotesk, wenn man bedenkt, worüber sich Menschen hierzulande beschweren, wenn man an das Leid denkt, das die Jemeniten tagtäglich ertragen müssen. Oder an die Tatsache, dass allein in Deutschland pro Jahr zwölf Millionen Lebensmittel auf dem Müll landen, während die Menschen dort Hunger leiden müssen.


Einige namhafte Influencer*INNEN haben ihre Reichweite genutzt, um den vergessenen Krieg wieder sichtbarer zu machen und ihre Follower*INNEN an das Leid vor Ort zu erinnern.




Was können wir konkret tun um den Menschen vor Ort zu helfen? Warum wird in den Medien über den „Vergessenen Krieg“ nicht berichtet und ist ein Ende des Krieges überhaupt in Sicht? Um dies herauszufinden, haben wir mit Internist, Rettungsmediziner und Buchautor ("Mut und Menschlichkeit") Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen gesprochen, der sich aktuell im Jemen befindet.


Tankred Stöbe // Photo: Barbara Sigge

femininINNEN: Lieber Herr Stöbe, vielen Dank dass Sie sich zwischen Ihrem sehr anspruchsvollem Einsatz im Jemen, die Zeit genommen haben mit uns zu sprechen. Können Sie uns kurz erzählen, welcher Tätigkeit Sie nachgehen?

Tankred Stöbe: "Als Notfallmediziner habe ich in den vergangenen Jahren über 20 Einsätze mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen durchführen können und war in vielen akuten Konfliktherden, wie zuletzt im Jemen im August und September. Ansonsten arbeite ich als Internist und Intensivarzt in einer Berliner Klinik und pendle immer wieder zwischen diesen verschiedenen Welten."


Was war Ihre Motivation in den Jemen zu gehen und vor Ort zu helfen?

"Wohin ein Einsatz geht, entscheidet sich jeweils nach aktuellem Bedarf, der Jemen war also etwas zufällig. Allerdings gibt es in diesem großen humanitären Krisenherd einen hohen Bedarf an medizinisch Helfenden, für die Organisation zählt er gerade zu den wichtigsten Einsatzländern."


Wo befinden Sie sich genau?

"Das Trauma-Center von Ärzte ohne Grenzen liegt in der südlichen Stadt Aden, hier können wir bis zu 100 kriegsverletzte Patienten aufnehmen, operieren, intensivmedizinisch behandeln, aber auch mit Physiotherapie und psychologischer Hilfe solange unterstützen, bis sie wieder selbstständig ihr Leben fortsetzen können."


Wie sieht Ihr Arbeitsalltag vor Ort aus?

"Morgens beginnen wir mit einem Meeting, danach folgt eine mehrstündige Visite, mit einem multidisziplinären Team sehen wir alle Patienten und entscheiden über die bestmöglichen Behandlungsoptionen. Danach folgen verschiedene Aufgaben: Die Gesundheit unserer Mitarbeitenden zu fördern, technische Fragen lösen, weitere Meetings. Als medizinischer Direktor ist es meine Aufgabe, die Klinik und seine fast 400 Helfer zusammenzuhalten, die Behandlungsqualität weiter zu verbessern, Korruption zu vermeiden und für ein gutes Arbeitsklima mitten im Krieg zu sorgen, auch wenn das vielleicht sonderbar klingt."


Tankred Stöbe im Einsatz im Jemen // Foto: MSF/Tankred Stöbe

Mit Corona kam noch eine akute Krise hinzu, auf die niemand vorbereitet war, weil Vorbereitung ein Privileg ist, das failed states nicht haben

Hat sich die Lage durch Covid-19 stark verschlimmert?

"Ja, aber vor allem im Mai und Juni. Wer im Jemen von der Pandemie heimgesucht wird, hat weltweit die wohl schlechtesten Überlebenschancen. Auf die chronische Krise kam mit Corona noch eine akute hinzu, auf die niemand vorbereitet war, weil Vorbereitung ein Privileg ist, das failed states nicht haben. Lange gab es im ganzen Land keine spezialisierte Behandlungsmöglichkeit. Und sämtliche Gesundheitseinrichtungen wiesen verdächtige Patienten erst ab und schlossen dann ganz. Weil Mitarbeitende erkrankten oder aus Angst zu Hause blieben. Weil Schutzutensilien fehlten. Und weil alles, was für eine adäquate Therapie nötig ist, wie Sauerstoffversorgung und Beatmungsgeräte, nicht verfügbar waren."


Was können wir tun um den Menschen vor Ort zu helfen?

"Wichtig finde ich, dass wir den Jemen und seine Menschen nicht vergessen. Dass wir Druck auf unsere Regierungen ausüben, damit diese aktiv werden, diesen tödlichen Konflikt endlich zu beenden. Und natürlich freuen wir uns über Helfende, die uns tatkräftig oder mit Spenden unterstützen. (hier erfährst du mehr, d. Red.)"


Was benötigen die Menschen am meisten?

"Im Jemen fehlt es derzeit an vielem: Frischwasser, Nahrung, funktionierende Schulen, Krankenhäuser mit ausgebildetem Personal, das auch bezahlt wird und ausreichend Medikamente und Schutzausrüstung zur Verfügung hat. Vor allem aber benötigt das Land eine Perspektive, dass der Krieg endlich aufhört."


Der Jemen braucht vor allem eine Perspektive, dass der Krieg endlich aufhört

Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?

"Das Schicksal der 4-jährigen Aya, die von einem Auto überfahren wurde, sie rannte wohl einfach auf die Straße. Wie es im Jemen Sitte ist, bringt der Fahrer das schwerverletzte Mädchen selbst in unsere Klinik, wo sie sofort in den OP kommt und die Chirurgen versuchen, die schweren abdominellen Blutungen zu stillen, außerdem diagnostizieren sie rechtsseitige Rippenserienbrüche. Wenn die noch weichen kindlichen Rippen brechen, ist immer von einem schweren Trauma auszugehen. Und doch hat Aya Glück im Unglück: sie überlebte. Und auf unserer Intensivstation kommt es zu einer stillen aber großen menschlichen Geste: der Vater von Aya vergibt dem Fahrer, andernfalls hätte das weitreichende, auch existentielle Konsequenzen für ihn bedeutet. Auch fast ein Wunder: kein Organ musste entfernt werden, ihr Darm, die Leber und Milz blieben intakt. Ihre Prognose ist gut."


Foto: MSF/Tankred Stöbe

Sind Sie selbst vor Ort schon einmal in Gefahr geraten?

"Selten, in den fast 20 Jahren waren es vielleicht fünf Situationen, zuletzt im Jemen 2017: da ereignete sich an meinem Ankunftstag eine Schießerei im Krankenhaus, ein schwerer Sicherheitszwischenfall. Zum Glück wurden keine Mitarbeitenden verletzt. Auch galt der Angriff weder dem Krankenhaus noch Ärzte ohne Grenzen, daher konnten wir unsere Arbeit fortsetzen."


Was glauben Sie, warum gilt der Jemenkrieg als sogenannter „Vergessener Krieg“? Warum wird über das Leid nicht berichtet?

"Dafür gibt es verschiedene Gründe, geografische und politische. Der Jemen ist von zwei Seiten vom Meer umgeben, eine große Wüste trennt das Land im Osten vom Oman und der neue Erzfeind Saudi-Arabien hat die Grenzen im Norden geschlossen. Kaum ein Konflikt ist mehr abgeschottet. Millionen Jemeniten irren als Binnenvertriebe durchs Land, aber Flüchtende gibt es kaum, weil alle Fluchtwege verschlossen sind. Geopolitisch gibt es wichtigere Konflikte, die Weltpolitik kümmert sich wenig um den Jemen. Und weil auch keine Journalisten ins Land gelassen werden, erfahren wir so wenig. Dabei verdienen die Jemeniten viel mehr Aufmerksamkeit, ich konnte sie als warmherzige Menschen in einem wunderschönen Land kennenlernen, mit einer alten und differenzierten Kultur."


Vielen Dank Herr Stöbe, für das interessante Gespräch und ihren unermüdlichen Einsatz in Kriegsgebieten.


 

Wenn auch du etwas tun willst, lies über den Konflikt, versuche zumindest Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen vor Ort zu unterstützen. Jeder Euro hilft und wenn viele einen Euro geben, kommt am Ende trotz der einzelnen Kleinbeträge doch eine große Summe zusammen!

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