Katja Brömer
Gegen das Vergessen: Der Verein Zweitzeugen holt Geschichte ins Jetzt
Aktualisiert: 9. Okt. 2020
Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährte sich im Mai 2020 zum 75. Mal. Wir alle kennen die Fotos der zerstörten Städte und die furchtbaren Bilder aus Konzentrationslagern. Die dürren, abgemagerten Körper der Menschen, die so viel Leid ertragen mussten. Und doch sind diese Bilder so fern von dem, was wir heutzutage für vorstellbar halten. In der Schule lernen wir zwar sehr viele Zahlen und Daten auswendig aber wie sollen wir wirklich verstehen können, wie sich die Menschen damals gefühlt haben? Wie können wir dafür sorgen, dass diese Bilder und deren Bedeutung nicht in Vergessenheit geraten, wenn wir und auch unsere Kinder keinen persönlichen Bezug dazu haben?

Zweitzeugen: Dieser Verein schafft Erinnerungen
Der Verein Zweitzeugen e.V. wirkt gegen das Vergessen. Die GründerINNEN und MitarbeiterINNEN halten in Schulen und Einrichtungen Workshops ab und erzählen anstelle der mittlerweile hochbetagten Zeitzeug*INNEN als Zweitzeug*INNEN die Geschichten von Holocaust-Überlebenden. Beginnend bei deren Kindheit soll den Schüler*INNEN eine Identifikationsmöglichkeit geboten werden. „Unser Wunsch ist es, dass die Kinder mit den Geschichten ein Gefühl verbinden, denn nur mit Gefühl kommt man zu einer Handlung“, berichtet Zweitzeugen-MitgründerIN Katharina Müller-Spirawski. Am Ende eines Workshops können die Kinder Briefe an die Zeitzeug*INNEN schreiben, um so zu reflektieren und ihre Eindrücke zu verarbeiten. Wie gerührt diese über die ehrlichen und lieben Worte der Kinder sind, müssen wir dir wohl nicht erzählen.


Durch den Verein und die weitergegebenen Geschichten sollen die Schüler*INNEN selbst zu Zweitzeugen werden und lernen, was sie bewirken können, wenn sie sich aktiv gegen Rassismus einsetzen. Katharina Müller-Spirawski fügt hinzu: „Natürlich geht es um Fakten, aber was wir in unserem Unterricht ergänzen können, ist das Gefühl, das vielleicht später dazu anregt, sich gegen Rassismus und Antisemitismus einzusetzen. Deswegen machen wir, was wir machen.“
Zweitzeugen: So entstand die Idee
Der Verein entstand aus einem Uni-Fotoprojekt, für das im Jahr 2010 Holocaust-Überlebende in Israel fotografiert und ihre bewegenden Geschichten in der Ausstellung erzählt wurden. Katharina Müller-Spirawski wusste sofort, dass mehr aus dem Projekt entstehen müsse und integrierte das Thema Zweitzeugen in ihr Lehramtsstudium. Seit 2014 ist der Verein eingetragen und trägt die Geschichten der Schoah-Überlebenden hinaus in die Welt. Weil viele der Zeitzeug*INNEN bald nicht mehr selbst über ihr bewegendes Leben sprechen können, nimmt sich der Verein stellvertretend ihrer Geschichten an. Heute hat der Verein über 200 Mitglieder*INNEN und über 100 Ehrenamtliche.

Auch wir durften einen Zeitzeugen anhand eines ergreifenden Interviews ein wenig kennen lernen. Rolf Abrahamsohn. Während des Lesens füllten sich unsere Augen oft mit Tränen und uns wurde bewusst, wie unglaublich wichtig es ist, gegen jegliche Form von Antisemitismus und Rassismus aufzustehen und sich aktiv einzusetzen.
Zweitzeugen e.V. hat uns exklusiv einen Teil des Interviews von Rolf Abrahamsohn zur Verfügung gestellt, das wir dir hier zeigen dürfen.
Wenn auch du die wichtige Arbeit von Zweitzeugen e.V. unterstützen oder noch mehr erfahren möchtest, schau doch mal auf www.zweitzeugen.de vorbei. Dort können die umfangreichen und sehr interessanten Interviews der Holocaust-Überlebenden für 5,00 € pro Interview erworben werden. Ein Katalog mit 10 Interviews kostet 30,00 €.
Interview mit Rolf Abrahamsohn

Kindheit
Zweitzeugen: Lieber Herr Abrahamsohn, können Sie uns von der Zeit vor der Nationalsozialistischen Diktatur erzählen? Wie sind Sie mit Ihrer Familie aufgewachsen?
"Ich bin ’25 in Marl geboren. Mein Vater kam 1908 nach Marl und ist dann 14 Soldat geworden. (...). Meine Mutter kam aus Iserlohn, mein Vater aus Stettin, sie haben ’20 geheiratet. Der erste Sohn war Ludwig. Meine Mutter ist mit dem Ludwig nach Iserlohn zu den Großeltern gefahren und dort bei der Kälte, hat er sich am Herd aufgewärmt. Dabei ist er aber auf den Herd gefallen, hat eine Lungenentzündung bekommen und ist gestorben. Zwei Monate später ist dadurch auch die Großmutter gestorben. Der Hans ist ’22 geboren und meine Wenigkeit ’25 und dann hab ich noch einen kleineren Bruder gehabt und der ist ’33 geboren."
Hatten Sie eine gute Kindheit und welchen Stellenwert hatte für Sie die jüdische Religion?
"Wir haben in Marl eine sehr gute Jugend gehabt, auch meine Eltern. Aber ich hab' auch nur christliche Freunde gehabt. Denn in Marl gab's keine Juden, mit denen ich Freundschaft schließen konnte. Ich musste also nach Recklinghausen fahren zur Jüdischen Gemeinde, um da Juden kennenzulernen. Wir haben also mit christlichen Jugendlichen gespielt. Ich bin zur evangelischen Schule gekommen, genauso wie mein Bruder Hans. Und wir haben keinen Unterschied zwischen Juden und Christen kennengelernt. Überhaupt nicht.
"Und wir haben keinen Unterschied zwischen Juden und Christen kennengelernt. Überhaupt nicht."
Und dann kam‚ ’33 und da wurde es mies, vor allem in Marl, weil da die Hitlerjugend war. Sie haben Plakate vor die Türe gehängt »Kauft nicht beim Juden«.
Mein Vater wollte auswandern, doch ein Kriegskamerad in Marl sagte zu ihm: »Arthur, diese Leute werden ja nicht ewig an der Regierung bleiben, es wird schon gleich in Ordnung gehen. Wander nicht aus.« Zuerst hat sich mein Vater daran gehalten. Wie es aber immer schwieriger wurde, hat er doch versucht ins Ausland zu kommen. Aber dann war es schon zu spät.
Du musstest Bürgschaften haben und die hatten wir schon bekommen, von Amerika. Mein Vater hatte noch einen Cousin in Amerika gehabt und der hat uns die Bürgschaft geschickt. Aber das ging bereits von Deutschland aus gar nicht mehr, sondern nur noch von Belgien aus. Und um nach Belgien zu kommen, musstest Du schwarz über die Grenze kommen. Das kostete pro Person 2.000 Reichsmark. So viel Geld hatte mein Vater noch in der Tasche aber alles andere Geld war beschlagnahmt worden. Und da hat ein Kriegskamerad von meinem Vater gesagt: »Geh Du schon mal, in acht bis vierzehn Tagen hab ich das Geld zusammen für Deine Frau und für die beiden Kinder.« Mein Vater wäre nie ohne die ganze Familie gegangen, doch hatten wir ja ’38 die Pogromnacht in Marl mitgemacht. Dadurch hat sich viel verändert."
Wie haben Sie die Reichspogromnacht erlebt?
"Unser Haus wurde angesteckt. Mein Vater hatte sich gar nichts dabei gedacht, sondern hatte die Türen aufgeschlossen, damit die Feuerwehr reinkommen konnte. Die SA ist aber rein- gekommen. Schweine will ich nicht sagen, Schweine soll man nicht beleidigen. Döweling und Klee, die sind da rein gestürmt und haben einen Krawattenständer genommen und meinen Vater tot, halb tot, geschlagen. Der hat da gelegen und die Flammen wurden immer größer. Wir haben in letzter Sekunde meinen Vater aus dem brennenden Laden ziehen können. Aber sein Gesicht war ganz zertrümmert. Und ein Dr. Mannz hat meinen Vater gepflegt. Als er um acht oder neun Uhr wieder wach war, wurden wir ins Gefängnis gesperrt. So kam mein Bruder von fünf Jahren ins Gefängnis. Wir haben dann zwei Tage in Schutzhaft gesessen. Wir wurden raus gelassen, kamen wieder in die alte Wohnung und das Licht war abgesperrt, die Heizung war tot. Das einzige, was wir noch hatten, war ein Herd, auf dem man mit Kohlen noch heizen konnte. Das war alles, was wir hatten."
Was passierte nach der Reichspogromnacht?
"Man hat meinen Vater aus dem Gefängnis entlassen – haftunfähig. Die Stadtverwaltung Marl wollte unser Haus für die NSDAP organisieren, da brauchte man aber eine Unterschrift für. Da hat man meinen Vater raus gelassen. Das ist mir jetzt so mit den Jahren bewusst geworden, dass das nur deshalb gewesen ist. Sonst hätte man ihn auch nach Buchenwald geschickt oder nach Dachau. Mein Vater wollte aber nicht unterschreiben und ist deswegen dann schon mal mit meinem Bruder Hans nach Belgien geflüchtet. In Belgien haben sie auf uns gewartet. Die Grenzen waren aber drei, vier Tage später schon zu und meine Mutter, mein kleiner Bruder Norbert und ich haben in Deutschland gesessen. Wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten nach Belgien zu kommen... Also mein Vater ist in Belgien geblieben, hat auf uns gewartet und dann kamen aber die Deutschen nach Belgien rein. Und dann haben wir von meinem Vater nichts mehr gehört. Mein Vater ist im November ’42 nach Auschwitz gekommen (...). Mein Bruder ist noch bis nach Frankreich geflüchtet, ist aber dort verhaftet worden und ist dann von da aus nach Auschwitz gekommen."
Wenn ich heute nach Belgien komme oder nach Frankreich und mir die Juden sagen: "Wie können Sie nur im Ausland leben?" Dann sage ich immer: "Und wie können sie in Frankreich leben? Da gab's auch dieselben Mörder."
Was ist mit Ihnen, der ja mit Mutter und Bruder in Deutschland blieb, geschehen?
"Wir mussten Marl verlassen und kamen dann nach Recklinghausen. Die meisten Juden hat man in irgendsoeine Baracke gesetzt, außerhalb der Stadt. Das wäre auch für uns gewesen, wenn uns die Stadt Recklinghausen nicht aufgenommen hätte."
Was erlebten Sie in Recklinghausen?
"Dort habe ich in der Schwefelgrube gearbeitet, als Vierzehnjähriger. Eigentlich durfte man nur mit achtzehn arbeiten. Ich habe 42 Pfennig die Stunde bekommen. Da gingen dann Steuern und Fahrgeld von runter, sodass meine Mutter noch mit meinem kleinen Bruder... Oh ja, 20 Reichsmark vielleicht in der Woche hatte. Aber ich war ganz stolz, dass ich helfen konnte. Dann gab’s aber Diphterie in Recklinghausen und mein kleiner Bruder hat Diphterie bekommen. Wir fanden keinen Arzt, der ihn behandeln wollte. Er ist daran gestorben. Der einzige war Dr. Cramer, der kam noch, da war es aber schon zu spät. So, dann war ich mit meiner Mutter alleine. Und im Januar ’42 kriegten wir den Bescheid, dass wir im Osten arbeiten sollten."
Sie waren ja sehr jung, als das angefangen hat und haben uns vorher erzählt, dass Sie vor allem einen sehr christlichen Freundeskreis hatten. Wie haben Sie begreifen können, dass Sie plötzlich so anders und so falsch sein sollten?
"Das hab ich nicht verstanden. Das habe ich nicht gewusst. Ich hab‘ mir gar keine Gedanken darüber gemacht, warum Juden anders sind, wie die anderen. Denn ich konnte auch nicht mehr lange nachdenken. Sehen Sie mal, ’38 da war ich dreizehn als ich das erste Mal im Gefängnis gesessen habe. Da hatte man schon den ersten Schock, nicht wahr? Und dann waren wir ganz isoliert. Wir mussten ja binnen 14 Tagen Marl verlassen. Aber das kann ich gar nicht, möchte ich gar nicht beantworten."

Konzentrations- und Arbeitslager
Wie erlebten Sie die Deportation im Jahr ’42?
"Wir sind am 12. Januar nach Gelsenkirchen abtransportiert worden und kamen dann von Gelsenkirchen im Zug nach Riga. Wir wussten aber nicht wohin wir im Osten kommen würden. Als wir am Bahnhof Skirotava ankamen, haben wir dann zum ersten Mal festgestellt, was man alles machen kann. Am Bahnhof in Skirotava hieß es auf einmal, dass wir vier Kilometer weit laufen müssten, durch die große Kälte und bei Glatteis. Wer aber nicht laufen kann, so hieß es, kann auf den LKW steigen. Und Ruth und Erik haben dann ihren Eltern auf den LKW geholfen. Wie sie im Ghetto ankamen, haben sie auf die Eltern gewartet. Aber da hätten sie schon »Kanisch« sagen können, da lebten die schon nicht mehr. Denn alle, die auf den LKW gestiegen sind, waren eine viertel Stunde später schon im Bikernieki Wald erschossen worden.
Und das zweite, das ich nach drei, vier Tagen im Ghetto gesehen habe, das war die Sache mit Frau Baum, Frau Baum aus Köln. Sie hatte zwei Kinder, ihren Mann hatte man auch schon erschossen. Sie hatte ihren Kindern so ein bisschen Suppe mitbringen können und die Suppe, die war ausreichend genug, um sie zu erschießen. Die Kinder haben daneben gestanden. Als dann die Frau zum Friedhof gebracht werden sollte, sind die Kinder hinterher gelaufen. Da hat sich der Krause umgedreht, hat die Kinder erschossen und da ist er einfach weitergegangen, mit der Zigarette im Mund und war weg. Das waren so die ersten Einsätze, die ich kennengelernt habe. Naja, und so wurden immer wieder Juden, die eben über waren, aus dem Riga-Ghetto weggebracht."
"Da hat sich der Herr Krause umgedreht, hat die Kinder erschossen und da ist er einfach weitergegangen, mit der Zigarette im Mund und war weg."
Wie schrecklich! Wie war es, im Ghetto in Riga anzukommen?
"Als wir im Ghetto ankamen, da stand noch das Abendbrot auf dem Tisch. Es war ja gefroren und konnte nicht kaputt gehen. Ein Herd war da – mit Holz drunter – und so haben wir das angemacht und haben gegessen. Das war das erste Essen, das wir nach der Zugfahrt gegessen haben. Wir haben aber nicht gewusst, dass die, die im Bikernieki-Wald ermordet worden sind, das Essen stehen gelassen haben. Das waren 42.000 Häftlinge, die an einem Tag in Riga ermordet wurden. Lettische Juden. Warum hat man sie ermordet? Weil man gesagt hat, wenn wir die am Leben lassen – denn Arbeitskräfte brauchten sie ja – dann können die ja noch flüchten. Die haben ja noch Freunde in Riga und kennen ja auch die Sprache. Aber wenn wir deutsche Juden da rein schicken, ist das doch prima – dann können die erst mal die Sprache nicht und sie kennen sich nicht aus. (...).
Doch nun konnte man ja nicht alle Leute sofort erschießen, manche brauchte man ja und dann hat man gesagt: »Wer hier nicht arbeiten kann, der kann nach Dünamünde kommen, da ist eine Fabrik, eine Fischfabrik, also eine sitzende Beschäftigung.« Und da hat man die ganzen alten Leute, das waren vielleicht 3.000 bis 4.000, dorthin geschickt. Und die ersten Wagen, die kamen schon nach einer halben Stunde wieder. Also hat man die erst gar nicht weggeschickt, es gab auch gar kein Dünamünde mit Fischfabrik. Die waren schon über. Und die waren alle für den Bikernieki-Wald bestimmt. Ja, das war so in Riga.
Ein anderes Mal hieß es: Alle Kinder, die noch da sind, werden geimpft. (...). Ja und die Eltern sollten mit den Kindern zum Marktplatz kommen. Die Nazis haben genau gewusst, wenn die Eltern am Abend von der Arbeit kommen würden und ihre Kinder verloren hätten, dass sie sich dann gewehrt hätten. Also wurden am 3. November ’43, 470 Kinder mit ihren Eltern ermordet.
Frau Aron [Rolf Abrahamson nennt sie Tante Minna, nach dem Krieg hat er sich liebevoll um sie gekümmert], die hat an diesem Tag neun Familienmitglieder verloren. Als sie wieder zurück ins Ghetto kam, war ihr Mann, ihr Vater, ihre Mutter, die Schwester mit Ihrem Mann und deren zwei Kindern, ihr Schwager und ihre Schwägerin nicht mehr da... Sie bat mich nach dem Krieg mit ihr zusammen an dem Tag zum Friedhof zu gehen (...). Und das haben wir von ’45 an bis heute gemacht. (...).
Gott sei Dank war da aber meine Mutter nicht dabei. Sie hat noch gelebt. Wir sind dann nach Kaiserwald gekommen, das war die erste Baracke, wo wir reingekommen sind, mit elektrischem Stacheldraht und da bekamen wir Häftlingsuniformen an. Das war ein KZ. Und da habe ich dann meine Mutter nur am Stacheldraht noch gesehen. Aber jeden Abend haben wir uns getroffen, wir konnten uns von Weitem noch sehen. Und dann kam Weihnachten ’43. Da mussten einige Arbeitskräfte raus und von Waggons Zementsäcke abladen. Da war ich dabei. Vier von uns mussten auch auf einem der LKW’s mitfahren, um die Zementsäcke wieder abzuladen. Wissen Sie, da haben wir auch nicht damit gerechnet, dass sie uns wieder zurückbringen. Doch sie haben uns zurückgebracht, aber erst haben sie uns im Keller des Krankenhauses eingesperrt. Und in dem Keller stand Brot. Ganze Brote. (...). Ich hab an meine Mutter gedacht. Mensch, und dann hab ich mir so ein Brot hinten in den Rücken gepackt. Und alle haben gesagt: »Bist Du verrückt? Dich hängen sie am Abend auf.« Für meine Mutter, hätt ich’s getan...gerne! Und wie wir angekommen sind, haben sie uns raus gelassen ohne zu kontrollieren. Und ich konnte abends meiner Mutter Brot über den Zaun werfen. Das weiß ich heute noch. Ein Auto ist nicht soviel wert gewesen wie das alte Brot. (...).
"Und ich konnte Abends meiner Mutter Brot über den Zaun werfen. Das weiss ich heute noch. Ein Auto ist nicht soviel Wert gewesen wie das alte Brot."
Meine Mutter musste aus Autobatterien die Bleiplatten raus bauen. Aber sie hatte keine Möglichkeit gehabt, sich vor dieser Säure zu schützen. Also meine Mutter haben Sie nicht mehr wiedererkannt. Nicht nur meine Mutter. Alle, die da gearbeitet haben, die waren nicht mehr wiederzuerkennen. Was meinen Sie, was ich glücklich war, dass ich meiner Mutter das Brot noch geben konnte. Und dann... hat man meine Mutter nicht mehr gebraucht."
Wie konnten Sie nach dem Verlust Ihrer Mutter weiter leben?
"Die SS hat da gestanden: »Du links und Du rechts« und ich bin dann bei denen gewesen, die am Leben geblieben sind. Und ich wollte gar nicht mehr. Ich wollte nicht mehr leben! Was sollte ich alleine machen? Wie alt war ich? 17. Tja. Und sie haben mich aber nicht mitgenommen. Ich sollte arbeiten. Und ich wollte zum Stacheldraht gehen. Und Herman Landau, der damals noch lebte, sagte: »Rolf, Dein Vater sucht Dich und Deine Mutter. Dein Bruder sucht Dich.« Da bin ich nicht weggegangen, bin geblieben... Aber mein Vater lebte ja schon gar nicht mehr. Hab ich doch nicht gewusst. Tja."
Wie furchtbar. Was aber passierte nach Ihrer Zeit in Riga?
"Dann sind wir von Riga aus mit einem Schiff nach Danzig gekommen. Der Kapitän hat uns Wasser und Brot runterbringen lassen und so sind wir am Leben geblieben, was die SS gar nicht wollte. Aber er war ja der Chef und hat das wirklich getan. Dann waren wir in Stutthof, da wurden wieder 300 ausgesucht. Ich bin wieder nicht dabei gewesen und so nach Buchenwald gekommen und vier Tage später nach Bochum. Bochum war eines der schlimmsten KZs. Und da haben wir nicht nur Granaten drehen müssen: Im November ’44, haben sie uns rausgeschickt zum Bomben freilegen. Es war ein Himmelfahrtskommando. Wenn ein Häftling, der lebenslänglich bekommen hat, zehn Bomben freigelegt hatte, dann durfte der raus." ....
Einige der Briefe, die Rolf Abrahamsohn von Schüler*INNEN erhalten hat:


